Wenn Vorurteile den Schulalltag beeinflussen

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@DIPF
Forschende untersuchen stereotypen Überzeugungen von Lehrkräften gegenüber Schüler*innen und deren Einfluss.

Ein Ziel der Abteilung ist es, Lehrkräfte im Umgang mit heterogenen Lerngruppen zu professionalisieren. Schüler*innen können sich in vielerlei Hinsicht unterscheiden und die Forschung zeigt, dass es eine Reihe von Merkmalen gibt, die bei Lehrkräften Stereotype hervorrufen können. Das sind verallgemeinerte Vorstellungen, die ihre Wahrnehmung und ihr Verhalten beeinflussen können.

In der Schule können sich diese Stereotype sowohl auf das Lernen und die Leistungen als auch auf das soziale Miteinander der Schüler*innen erheblich auswirken. Denn wenn Lehrkräfte (unbewusste) stereotype Überzeugungen haben, bewerten sie bestimmte Schüler*innen möglicherweise negativer, trauen ihnen weniger zu oder fördern sie nicht in gleichem Maße. Das kann zu schlechteren Leistungen und zu geringerem Lernerfolg führen. Geht man von einem mehrdimensionalen Modell professioneller Kompetenz bei Lehrkräften aus, können Stereotype als berufsspezifische Überzeugungen verstanden werden. Für eine professionelle Berufsausübung gilt es, diese zu adressieren.

Vor diesem Hintergrund erforscht die Abteilung Stereotype von Lehrkräften gegenüber unterschiedlichen Gruppen von Schüler*innen. Stereotype beziehen sich oft auf demografische Merkmale von Schüler*innen wie Geschlecht, Migrationshintergrund oder soziale Herkunft. Sie können aber auch Kinder mit besonderen pädagogischen Bedarfen betreffen – zum Beispiel bei Lernschwierigkeiten, Entwicklungsstörungen oder besonderen Begabungen (siehe Grafik „Typische Merkmale ...“).

Welche typischen Merkmale im Schulkontext mit Stereotypen verbunden sind

Forschung zu geschlechtsbezogenen Stereotypen

In den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) spielen Geschlechtsstereotype eine große Rolle. Diese Fächer werden traditionell mit dem männlichen Geschlecht assoziiert und bis heute sind große Unterschiede in den Interessen und Leistungen bei Jungen und Mädchen sichtbar. Als möglichen Erklärungsfaktor für diese Unterschiede nimmt die Abteilung stereotype Überzeugungen bei Lehrkräften und bei den Schüler*innen selbst in den Blick.

Beispielsweise wurde untersucht, welche Erwartungen Lehrer*innen und Grundschulkinder bezüglich der Leistungen von Jungen und Mädchen in verschiedenen MINT-Fächern haben. In den Bereichen Technik und Informatik zeigten sich dabei bei beiden Gruppen stark ausgeprägte Stereotype und in einem etwas geringeren Maß auch in Mathematik. Das heißt, Mädchen wird in diesen Fächern weniger zugetraut als Jungen. Bei Lehramtsstudierenden waren diese Stereotype sogar noch stärker ausgeprägt.

Derzeit untersuchen die Wissenschaftler*innen der Abteilung an Grundschulen in Hessen und Baden-Württemberg, ob sich in Klassen, in denen die Lehrkräfte stärker ausgeprägte geschlechtsbezogene Stereotype aufweisen, auch bei den Schüler*innen ein höheres Maß an solchen Überzeugungen findet.

Forschung zu Stereotypen gegenüber Kindern mit besonderen pädagogischen Bedarfen

Schüler*innen unterscheiden sich nicht nur in persönlichen Merkmalen wie dem Geschlecht, sondern auch in ihren Leistungsvoraussetzungen. So haben Lehrkräfte einerseits mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die aufgrund von spezifischen Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten besondere Förderung benötigen, andererseits aber auch mit solchen, die aufgrund ihrer besonderen Begabung gezielt gefordert werden sollten.

Vor diesem Hintergrund befasst sich die Abteilung mit der Bedeutung von Stereotypen für den inklusiven Unterricht. Im Projekt „Stereo-Disk – Stereotype als Hindernisse für professionelle Diagnostik im inklusiven Schulkontext“ wird anhand von Umfragen, Experimenten und simulierten Diagnostiksituationen untersucht, welche Stereotype bei Lehramtsstudierenden gegenüber Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorliegen und wie diese die diagnostischen Prozesse beeinflussen. Dabei zeigte sich in Interview- und Fragebogenstudien, dass Kinder mit Autismus als hochintelligent, aber unsozial und emotional kalt wahrgenommen werden, während Kinder mit Down-Syndrom als wenig kompetent, aber warm und gutmütig stereotypisiert werden. Da diese Wahrnehmungen gesellschaftlich geprägte Überzeugungen sind, können sie je nach Kontext variieren. Deshalb werden in einer kulturvergleichenden Studie die stereotypen Annahmen von deutschen und nigerianischen Lehrkräften im Hinblick auf autistische Kinder verglichen. Auf dieser Basis sollen spezifische Professionalisierungsmaßnahmen abgeleitet werden (siehe das Interview mit Dr. Charity Onyishi).

Des Weiteren liegt ein Fokus auf besonders begabten Kindern. Stereotype Überzeugungen von Lehrkräften in Bezug auf Hochbegabung können beeinflussen, wie die Lehrer*innen hochbegabte Schüler*innen wahrnehmen, fördern oder überhaupt als solche identifizieren. Anhand von Befragungen und experimentellen Designs wird erforscht, welche Annahmen Lehrer*innen und Lehramtsstudierende aufweisen, um mögliche Inhalte für Fortbildungen und die Lehramtsausbildung ableiten zu können.

Maßnahmen zur Reduktion von Stereotypen

Ein erster Schritt, um Stereotype zu reduzieren, ist, sich diese Überzeugungen bewusst zu machen und sie zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund arbeitet die Abteilung an verschiedenen Unterstützungsleistungen:

  • Es wurde eine Skala entwickelt, mit der sich die „Bias-Awareness“ (Bewusstsein über eigene Stereotype) von Lehrkräften im Hinblick auf geschlechtsbezogene Stereotype im MINT-Bereich erfassen lässt.
  • Für die Begabtenförderung wird ein Self-Assessment-Tool erarbeitet, das (angehenden) Lehrkräften helfen soll, ihre Überzeugungen zu erkennen und zu reflektieren.
  • Zudem wurde im Projekt „INCLASS – Inklusion von Kindern im Autismus-Spektrum in der Schule ein Instrument entwickelt, das unter anderem Wissen und stereotype Annahmen von Lehrkräften zu Kindern mit Autismus erfasst und dies auch den Lehrer*innen rückmeldet. Das ist ein wichtiger Ansatzpunkt, um sie besser im Umgang mit Autismus qualifizieren zu können.

Ausgewählte Publikationen

Glock, S. & Kleen, H. (2023). The role of preservice teachers’ implicit attitudes and causal attributions: A deeper look into students’ ethnicity. Current Psychology, 41(10), 8125-8135. doi:1007/s12144-021-02000-2

Schell, C., Dignath, C., Kleen, H., John, N. & Kunter, M. (2024). Judging a book by its cover? Investigating pre-service teacher's stereotypes towards pupils with special educational needs. Teaching and Teacher Education, 142, 104526. doi:1016/j.tate.2024.104526

Weiß, H. & Beißert, H. (2023). Frauen in MINT-Studiengängen: Genderideologien, Gender-Science-Stereotypen und Zugehörigkeitsgefühl. Beiträge zur Hochschulforschung, (2), 76-91.