In den Jahren 2023 und 2024 setzte die Abteilung „Bildung und Entwicklung“ (BiEn) ihren Forschungsschwerpunkt weiterhin darauf, individuelle Entwicklungsverläufe zu analysieren – allgemein und unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den untersuchten Personen. Dabei interessieren sich die Forschenden insbesondere dafür, wie sich die Entwicklung in Bildungskontexten bestmöglich unterstützen lässt. Ein zentrales Interesse gilt intraindividuellen Veränderungen, also Entwicklungen, die innerhalb von Individuen ablaufen. Die Forschenden der Abteilung erschließen Möglichkeiten, die Entwicklung der Potenziale und individuellen Voraussetzungen von Personen so zu beeinflussen, dass deren Lernerfolg immer größer wird. Auch wenn die Forschungsarbeiten im ganzen Spektrum des lebenslangen Lernens angesiedelt sind, liegt ein Fokus auf den ersten zwölf Lebensjahren. Von herausragender Bedeutung für die Abteilung ist in diesem Zusammenhang das am DIPF dauerhaft angesiedelte Forschungszentrum „IDeA“ (Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk, siehe „Children at Risk").
Die Forschung der Abteilung stützt sich methodisch vor allem auf Längsschnittuntersuchungen und experimentelle Studien. Sie werden unter anderem durch Trainings- und andere Interventionsstudien ergänzt. Zusätzlich entwickeln, validieren, normieren und evaluieren die Forschenden diagnostische Verfahren, um lernrelevante individuelle Voraussetzungen erfassen zu können.
Die wissenschaftlichen Arbeiten erfolgten im Berichtszeitraum in vier Arbeitsbereichen:
Die Bereiche beschäftigen sich mit den im Folgenden dargestellten thematischen Schwerpunkten.
Ontogenese individueller Voraussetzungen erfolgreichen Lernens
Erfolgreiches Lernen basiert auf einer Vielzahl individueller Voraussetzungen, darunter motivationale, volitionale und vor allem kognitive Kompetenzen. Diese wurden auch 2023 und 2024 untersucht:
- Bei den kognitiven Kompetenzen lagen die Forschungsschwerpunkte auf der Funktionstüchtigkeit und der Arbeitsweise des Arbeitsgedächtnisses, der Nutzung von Lern- und Behaltensstrategien, der Rolle von Selbstregulation und auf den Vorläuferfertigkeiten für den Schriftsprach- und Mathematikerwerb.
- In den Arbeitsbereichen „Kognitive Entwicklung“ und „Individualisierte Förderung“ analysierten die Forschenden die intraindividuelle Variabilität von Leistungen bei kognitiven Anforderungen sowie von Selbstkontrolle im Schulalltag. Die Selbstkontrolle wurde hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Schulleistungen und für weitere Merkmale untersucht.
- Die Abteilung hat sich auch vermehrt mit der Rolle der psychischen Gesundheit in der Lebenswelt Schule befasst (siehe „Bedeutung psychischer Gesundheit …“).
- Außerdem wurden Arbeiten zu den Zusammenhängen zwischen orthographischem Wissen und der individuellen Lese- und Rechtschreibentwicklung bei Zweitklässler*innen initiiert. Dabei wurden weitere Prädiktoren des Schriftspracherwerbs einbezogen – zum Beispiel die phonologische Bewusstheit, die auditive Merkfähigkeit und die Benenngeschwindigkeit.
Erforschung und Implementierung individueller Förderung
Dieser Schwerpunkt widmet sich der Frage, wie Kinder mit Entwicklungsrisiken individuell gefördert und wie solche Förderansätze mithilfe moderner Informationstechnologien in den Schulalltag integriert werden können. Zuletzt ging es unter anderem darum, wie sich Vorwissen durch das Generieren von Vorhersagen aktivieren lässt und welche Strategien erfolgreich den Lernerfolg von Kindern steigern können. Außerdem haben Forschende der Abteilung eine App weiterentwickelt, mit der sich das selbstregulierte Lernen verbessern lässt. Dabei kommen digitale Prompting-Techniken zum Einsatz. Sie unterstützen das Planen von Lernphasen (siehe „Das Projekt PROMPT …“).
Weitere zentrale Arbeiten in diesem Schwerpunkt:
- In Kooperation mit mehreren Institutionen untersuchten BiEn-Expert*innen die diagnostische Feststellungs- und Beratungspraxis in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, emotional-soziale Entwicklung, geistige Entwicklung und Autismus. Diese Arbeiten in fünf Bundesländern wurden im Berichtszeitraum abgeschlossen.
- Im Rahmen eines Verbunds, der sich mit systematischer frühkindlicher Förderung von Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien beschäftigt, entstand eine praxisnahe Publikation zur Schulbereitschaft.
- Unter der Leitung der DIPF-Abteilungen BiEn und „Lehr- und Lernqualität in Bildungseinrichtungen“ (LLiB) wurde ein Prozess gestartet, um das Programm der Hector-Kinderakademien in Hessen zu implementieren. Das Programm dient dazu, besonders begabte Grundschulkinder zu fördern, und läuft bereits seit einigen Jahren in Baden-Württemberg – wissenschaftlich mitbegleitet von BiEn.
Lern- und Leistungsstörungen
In diesem Bereich geht es um soziale und neurokognitive Risiken, die schulrelevante Entwicklungen von Kindern beeinflussen können. Die Mitarbeitenden erforschen, welche Mechanismen dabei wirken und wie die schulische Leistung trotz hartnäckiger Lernschwierigkeiten verbessert werden kann. Auch 2023 und 2024 standen kognitive Besonderheiten bei Kindern mit Lernstörungen in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Rechnen im Zentrum der Untersuchungen:
- Ein von der Abteilung entwickeltes und evaluiertes Programm, mit dem sich die Leseflüssigkeit steigern lässt, wurde erfolgreich in ein System der digitalen Lernverlaufsdiagnostik für Grundschulen implementiert. Es kommt in mehreren Bundesländern zum Einsatz.
- Die Forschenden setzten die Implementierung einer Online-Plattform zur Diagnostik und Förderung von Kindern mit Lernstörungen fort.
- Die langfristigen Auswirkungen von in der Grundschulzeit diagnostizierten Lernschwierigkeiten wurden im frühen Erwachsenenalter untersucht.
Entwicklungsdynamiken psychischer Funktionen über die Lebensspanne
Die Mitarbeitenden der Abteilung erforschen, wie sich kognitive Funktionen als Grundlage für (Lern-)Leistungen in Alltags-, Berufs- und Bildungskontexten auf unterschiedlichen Zeitebenen verändern. Mehrere Projektteams untersuchten Leistungsschwankungen im Tagesverlauf und von Tag zu Tag. Ein Ziel war es, den Zusammenhang dieser Schwankungen mit affektiven, motivationalen und kognitiven Prozessen besser zu verstehen (siehe „Bedeutung psychischer Gesundheit …“).
Schwerpunkte im Berichtszeitraum:
- Ein Fokus lag auf kurzzeitigen Schwankungen der kognitiven Leistung und des emotionalen und sozialen Erlebens von Schüler*innen (siehe „Das Projekt Verstehen und Verbessern …“).
- Die Wissenschaftler*innen analysierten außerdem Gelingensbedingungen der psychosozialen Anpassung im Kontext des Übergangs vom Abitur zum Studium.
- Nicht zuletzt lag das Augenmerk auf methodischen Fragen und der Aufgabe, sie mit längerfristigen Entwicklungsprozessen konzeptionell in Verbindung zu setzen.
Ziel ist es, Personen möglichst umfassend und alltagsnah als komplexe individuelle und dynamische Systeme beschreiben zu können. Die Analysen sollen helfen, diese Unterschiede in längerfristigen entwicklungs- und bildungsrelevanten Anpassungsprozessen besser zu verstehen.
Children at Risk - IDeA
Das Forschungszentrum „IDeA“ (Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk) untersucht interdisziplinär die individuellen Entwicklungsprozesse von Kindern im vorschulischen und schulischen Bildungskontext. Ein besonderes Augenmerk gilt Kindern mit (neuro)kognitiven und/oder sozio-emotionalen Risikomerkmalen, welche die Entwicklung der schulischen Fertigkeiten beeinträchtigen können. Das Zentrum verbindet das Fachwissen zahlreicher Disziplinen, unter anderem Psychologie, Psychoanalyse, Erziehungswissenschaft, Fachdidaktiken, Soziologie, Psycholinguistik und Neurowissenschaften. Die Abteilung verantwortet die wissenschaftliche Leitung von IDeA – in Person von Prof. Dr. Florian Schmiedek. Daraus ergibt sich eine enge und effektive Verzahnung mit weiteren BiEn-Arbeiten.
Alle Zentrumsmitglieder können die dauerhaft in der Abteilung verankerte IDeA-Infrastruktur nutzen:
- „Special Interest Groups“ und regelmäßige Veranstaltungen bringen den Austausch der Forschenden voran.
- Ein Mentoring-Programm, Workshops sowie finanzielle Unterstützung für Auslandsaufenthalte und zur Einwerbung von Drittmitteln fördern Forschende in Qualifizierungsphasen.
- Eine Laborstruktur nach dem „Joint Lab“-Prinzip bietet allen Beteiligten Forschungstechnik, Räume und fachliche Unterstützung durch das Laborpersonal. Das eröffnet Möglichkeiten, die über das hinausgehen, was an den einzelnen Partnerinstitutionen realisierbar wäre. Dazu gehören zum Beispiel Einzel- und Gruppentestungen an Computern, Videobeobachtungen, Eye-Tracking und neurowissenschaftliche Testungen (wie die Hirnstrommessung mittels Elektroenzephalografie – EEG). Die Untersuchungen können im DIPF oder mobil in den teilnehmenden Bildungsinstitutionen (Schulen, Kindertagesstätten und Museen) durchgeführt werden.
Vernetzung und Transfer
Als zentrales Element ihrer Gesamtstrategie stärkt BiEn die Vernetzung innerhalb des DIPF, mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main und mit weiteren nationalen und internationalen Forschungseinrichtungen. Wichtige national kooperierende Organisationen waren im Berichtszeitraum Universitäten in Bochum, Gießen, Hildesheim, Marburg, München und Tübingen, das „Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ (IQB), das „Max-Planck-Institut für Bildungsforschung“ und das „Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache“. International arbeitete die Abteilung mit der Harvard University (USA) und der University of Cambridge (Großbritannien) zusammen. Darüber hinaus sind BiEn-Forschende am internationalen Netzwerk „Connecting the EdTech Research EcoSystem“ (CERES) beteiligt. Es wird von der „University of California, Irvine“ (USA) koordiniert und bündelt und unterstützt innovative Entwicklungen im Bereich kindgerechter digitaler Lerntechnologien.
Die Abteilung koordiniert außerdem seit einigen Jahren stellvertretend für das gesamte Institut das Leibniz-Forschungsnetzwerk Bildungspotenziale (LERN). Darin sind mittlerweile Forschende von 17 Instituten der Leibniz-Gemeinschaft und weiteren Bildungsforschungseinrichtungen zusammengeschlossen. Ziel ist es, gemeinsam Potenziale von und für Bildung zu identifizieren und zu erschließen sowie zu ihrer besseren Nutzung beizutragen.
BiEn leitet und koordiniert darüber hinaus zwei Programme zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses in der Bildungsforschung: das bei LERN angesiedelte Netzwerk „College for Interdisciplinary Educational Research“ (CIDER) für Postdoktorand*innen und das „GRADE Center Education“, das Teil des Graduiertenprogramms „GRADE“ der Goethe-Universität ist.
Darüber hinaus unterstützen zahlreiche Initiativen und Projekte der Abteilung den Transfer wissenschaftlicher Ergebnisse im Dialog mit der Bildungspraxis. Dazu gehören:
- Vortragsreihen, Fortbildungen, Workshops und Publikationen,
- von BiEn entwickelte digitale Applikationen zur individuellen Lernförderung (siehe zum Beispiel „Das Projekt PROMPT …“),
- das gemeinsam mit der Abteilung LLiB und der Goethe-Universität getragene Programm „Campusschulen Frankfurt und Umgebung“, in dem Schulen und Wissenschaftler*innen zusammenarbeiten und an dem das IDEA-Zentrum beteiligt ist, sowie
- konkrete Transfervorhaben, zum Beispiel das Projekt „BiSS-Transfer“ (siehe „Das Programm Bildung durch …“).